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Richter ist Gerechtigkeit gegen jedermann, er darf nicht zu barmherzig sein, aber auch nicht im Zorn richten, darf sich durch Angst oder Bestechung nicht beeinflussen lassen. Die zwei Fittiche des Adlers werden auf geistliches und weltliches Gericht gedeutet und lang bei diesem Thema verweilt. Ein Richter muss Gott fürchten, muss auf guten Rat hören, darf sich durch Freundschaft, Eitelkeit oder Gewinnsucht nicht zur Ungerechtigkeit verleiten lassen, soll nicht drohen ohne zu strafen, auch nicht alles glauben, was ihm hinterbracht wird; zum Schluss umständliche Erörterung aus welchen Gründen man zu ungerechtem Richten kommen kann. Auffallend isoliert stehn dazwischen die Verse vom Hehler, der schlimmer sei als der Dieb (12575-84). Dass die Pfaffen und die Laien, die friedlich getrennt von einander ihr zweierlei Recht ausüben sollten, einander gehässig schelten, lässt Thomasin eine Weile abschweifend von unangebrachtem Schelten im Allgemeinen reden 12761-12804.

Buch X. Das letzte Buch ist endlich wieder streng durchkomponiert: von der Milte: 1. warum von ihr nach dem Recht geredet wird 13565-13660, 2. warum von ihr zu allerletzt geredet wird 13661-13938. Dann das eigentliche Thema: 1. waz milte si 13951-13982, 2. wer milte si 13983-14058, 3. wie ein man milte si 14059 ff. Hier reiht sich wieder ein Gesetz der Milte an das andere: der wahrhaft milte giebt so, dass keinem dadurch unrecht geschieht. Jeder gebe mit Rücksicht auf den Empfänger, aber auch mit Rücksicht auf seinen eigenen Besitz und seine Pflichten. Man soll nicht erst lange bitten lassen, nicht mürrisch geben, nicht an Vergelt denken, nicht lang versprechen ohne zu halten, Gabe und Gegengabe nicht vergleichen, nicht zu schnell gegengeben. Endlich noch die Frage: was man schenken soll, und nun werden die Regeln der milte auf den welhschen gast selber angewandt. Das gibt den Übergang zur Schlussapostrophe das grosse Werk ist vollendet.

an das Buch

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Zehn Monate hat Thomasin am W. G. geschrieben, und wir bewundern die Konzentrationskraft dieses Geistes, der ohne genauen Plan, immer wieder seiner eigenen natürlichen Entwicklung überlassen, das grosse Werk doch so einheitlich zu Ende führte. Thomasin selber ist stolz darauf, wie schnell er gearbeitet hat: es war weiss Gott! kein Zeitvertreib. Hiet ich mich tihten angenomen durch kurzwile, ich war niht komen in vier jaren dá ich bin, sagt er, als acht Bücher zu Pergament gebracht sind, und rechnet sich weiter aus: ich hiet dermit wol vümf jâr ze kurzwilen 12285. Die Berechnung stimmt, denn es fehlt gerade der fünfte Teil.

Wie hat er denn nun aber im Einzelnen gearbeitet hat er während des Schreibens noch Stellen in den Kirchenvätern nachgeschlagen? Haben wir ihn uns in seiner Zelle von schweinsledernen Folianten umgeben zu denken? Einmal nennt er einen Gewährsmann mit Namen: Gregorius der heilege man etc. 4795. Wie Rückert schon nachgewiesen hat, liegt ihm da Moralia in Hiob Cap. I im Sinn: Sciendum vero est quia satanae voluntas semper iniqua est, sed numquam potestas injusta, quia e semet ipso voluntatem habet, sed a Domino potestatem 1). Thomasin sagt: er sprichet daz des tiuvels gewalt sî übel niht. er sprichet halt, er si guot, 'aver der wille ist übel' sprichet er, 'zaller vrist' das ist allerdings ein wörtliches Citat. Aber wir brauchen darum doch nicht anzunehmen, dass er es sich erst aufsuchen musste. Gerade ein so prägnant gefasster Gedanke konnte ihm leicht wörtlich im Gedächtnis geblieben sein, und im Ganzen macht der W. G. nicht den Eindruck als sei sein Inhalt im Augenblick erst aus Büchern zusammengetragen 2). Die Anklänge an Alanus z. B. sind ganz fraglos durch

1) Genau dasselbe findet sich ebda. Cap. XXVII 2 noch einmal: Unde et omnis voluntas diaboli iniusta est, et tamen permittente Deo omnis potestas iusta.

2) Dasselbe meint Rückert in seiner Anmerkung zu 1071.

die Erinnerung gegeben. Nein, Thomasin hatte seine Kirchenväter ebenso wie die Bibel (resp. besser) im Kopf, er hatte ihre Lehren lebendig in sein eigenes Denken aufgenommen und brauchte während der Arbeit nicht mehr nachzuschlagen. So sind die Verse 105 ff. zu verstehn er hat allerdings sin rede gestætiget mit ander vrumer liute lêre, aber stets so, dass der funt vorher wirklich sin geworden war. Sein Werk macht nirgends den Eindruck der Unfreiheit.

Unsere Achtung vor der geistigen Leistung steigert sich noch, wenn wir uns noch einmal daran erinnern, dass Thomasin sich auch in der deutschen Form nicht merklich an vorgefundene Muster anschliesst. Er gehört keiner Schule an, ist vom höfischen Stil völlig unbeeinflusst. Einiges Formale scheint ja allerdings einer volkstümlichen didaktischen Poesie entnommen, so etwa die Reimformeln, die der Wälsche Gast mit Freidanks Bescheidenheit gemein hat: der ez merken wil, derz merken kan, wizzet daz, daz ist mîn rât, daz stât wol aber das ändert an unsrer Wertung wenig oder nichts. Thomasin war ohne Zweifel ein Mensch von starker Eigenart; in ihm vereinigten sich Wissen und klares konstruktives Denken, scharfer Blick und weitgehendes Verstehen, sittliches Pflichtgefühl, Fleiss, Redegewandtheit. Die freie Phantasie hat an seiner Arbeit nur geringen Anteil. Ein an ihm sehr hervortretender Charakterzug ist die Gefühlskälte, die seine Verstandesschärfe begleitet; ihm fehlt z. B. ganz der Humor. Wo er scherzt, ist es eine Ironie, die verletzen will. Es fehlt ihm überhaupt eine eigentliche Liebe zu seinen Mitmenschen. Er sieht ihre Fehler deutlich und sie schmerzen ihn auch, er sieht ihre unglückliche Unruhe und Haltlosigkeit, aber er bleibt dabei für seine eigene Person gelassen. Er ist sich seines Wertes bewusst und ruht in seinem eignen gefesteten Wesen mit einer Sicherheit, die bei einem noch nicht 30-jährigen erstaunlich ist, und die ein ungewöhnlich starkes Ichbewusstsein verrät. Darin ist er ganz Italiener. -- Welchem

deutschen Dichter seiner Zeit ist es eingefallen, seinen Lesern mitzuteilen, wie lange er an seinem Werk gedichtet hat, wie selten findet sich eine so genaue Angabe über das Alter des Verfassers; und all dem Andern, was S. 106 ff. an persönlichen Bekenntnissen und Mitteilungen eigener Erlebnisse Thomasins angeführt wurde, lässt sich aus der deutschen Versliteratur der Zeit nur Weniges an die Seite stellen. In Thomasin als Italiener lebt noch etwas von der klassischen Tradition, in der das Ich sich selber schon deutlicher bewusst geworden war, und es klingt fast wie eine Weissagung auf die nur wenig mehr als 100 Jahre später in Italien beginnende Renaissance mit ihrem Kultus des Individuums, wenn er v. 4093 von sich sagt:

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Alanus ab Insulis 124. 125. 132. dâ -von, ane u. s. w. 65

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