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Mitteilungen.

Französischer Regionalismus und Volkskunde. (Zwei Vorträge, gehalten auf dem Ferienkursus des Pommerschen Philologenvereins in Stettin am 13. und 14. Oktober 1913.)

I.

An dem reichen Zuwachs, den der französische Wortschatz im Laufe des jüngst verflossenen Jahrhunderts durch die Erweiterung menschlicher Vorstellungs- und Schaffensgebiete, durch die Befreiung des sozialen und geistigen Lebens von veralteten Gesetzen und hemmenden Regeln gewann, erhielt auch die Literaturwissenschaft einen gut gemessenen Anteil. Die Entwickelung des schöngeistigen Schrifttums in Frankreich hat namentlich während der letzten Jahrzehnte eine Fülle neuer Schlagworte erzeugt, die freilich nicht immer mit voller Klarheit die von ihnen bezeichneten Richtungen erkennen lassen. Allerlei Schattierungen dieser neuen Kunstlehren und Geschmackströmungen, ihre mannigfach abgetönte Uebertragung und Anwendung auch ausserhalb ihrer Heimat, oft der Abfall der ersten Anhänger und Verkünder haben ihre Grenzen, zuweilen in sehr auffälligen und raschen Wandlungen verwischt und verschoben.

Darum haben die Neologismen in dem Wortvorrat der Literaturhistoriker, den die akademisch-klassische. Ueberlieferung auf eine Mindestzahl auserlesener und anerkannter Bezeichnungen beschränkt hatte, nichts von ihrem Reiz und von ihrer Bedeutung verloren. Im Gegenteil verleiht gerade auch starken literarischen Persönlichkeiten, wie V. Hugo, Th. Gautier, Balzac, St. Beuve u. a., der Wandel und das Spiel ihrer sozialen und künstlerischen Ueberzeugungen und Geschmacksstimmungen, ihre Anpassung an romantische, realistische, parnassische, an aristokratische oder volksmässige Kunst eine besondere Anziehungskraft, für berufsmässige Kritiker wie für den nur geniessenden Literaturfreund.

Gar manches der grossgemeinten modernen Schlagworte ist schnell verblasst oder ganz verklungen. Selbst eine Bezeichnung wie

zu

,,Impressionismus", ein bestechender Ausdruck für gewisse malerische Wirkungen der Sprache, dessen Grundlinie man gern von den Goncourts zu Loti zieht, wird sich in der Poetik nur in gelegentlichen Parallelen zur bildenden Kunst halten können, andere Losungen wie ,,Naturismus“, die für einen kleinen Kreis giltige Umformung des fast gleichklingenden ,,Naturalismus", oder ,,Intuitivismus“, die Devise fromm-psychologischer Romanciers von der Art Edouard Rods, bleiben gewiss, ohne weiteren systematischen Sinn, allein in der Sonderforschung lose haften, die ihre Deutung auf eine der vielen, rasch vergangenen Revuen oder ebenso bald vergessenen Vorreden stützen muss. Unvergleichlich günstiger, obwohl auch noch eine Frage der Zukunft, ist das Schicksal der Wörter régionalisme und folklore, deren Gebiete sich wie der Inhalt exzentrischer Kreise nur in einem Teile decken. Das ältere von ihnen, folklore, ist aus England entlehntes Sprachgut, und dort glaubt es einer der ersten systematisch arbeitenden französischen „Folkloristen", Puymaigre zuerst in dem Athenaeum vom 22. August 1846 festgestellt haben. Zu Anfang seines eigenen, ebenfalls Folklore betitelten Buches gibt er 1885 die Erklärung: „Folklore comprend dans ses huit lettres les poésies populaires, les traditions, les contes, les légendes, les croyances, les superstitions, les usages, les devinettes, les proverbes, enfin tout ce qui concerne les nations, leur passé, leur vie, leurs opinions. Il était nécessaire d'exprimer cette multitude de sujets sans périphrases, et l'on s'est emparé d'un mot étranger auquel on est convenu de donner une aussi vaste acception." Es ist bemerkenswert, dass Rathér y, der in einer Feuilletonserie des Moniteur vom Frühling bis zum Herbst 1853 das zur Sammlung der Volkslieder auffordernde Ministerial-Dekret vom 12. Dezember 1852 erläuterte, das Wort nicht einmal anwendete. Seitdem aber hat es sich allmählich besonders durch die Namen volkskundlicher Revuen und Gesellschaften Heimatsrecht im ganzen französischen Sprachgebiet, zumal in Frankreich und Belgien, erobert, und das im Jahre 1910 vollendete Werk Sébillots Le Folklore de France, der erste Versuch einer Zusammenfassung des ungeheuren in Zeitschriften und Monographien verstreuten Stoffes, wird durch seine vier Bände dem fremdartigen Worte seinen Platz wenigstens in der Sprache der zukünftigen Folkloristes oder Traditionistes vollends sichern.

In anderen Verhältnissen lebt das Wort régionalisme. Es ist auf nationalem Boden erwachsen und Wort wie Sache in ihrer Sonderart nur auf romanischem Boden heimisch.

Der französische Regionalismus vereinigt in seinem Begiff und Ziel in der Hauptsache zwei auf den ersten Anschein getrennt liegende Dinge: staatliche Verwaltungseinrichtung und das allgemeine Geistes

leben, insbesondere das dichterische Schrifttum der Provinzen, ihr Eigenleben in Sprache, Sitte und Naturdenkmälern, alles das, worin der Geist einer Landschaft région oder kleineren Stammesgemeinschaft, ihre Ueberlieferung, ihr Volkstum zum Ausdruck kommen oder kommen sollten. Nach der unter den Regionalisten vereinbarten Ausdrucksweise gibt es demnach einen administrativen und einen intellektuellen, im engeren Sinne literarischen Regionalismus. Man möchte, ehe man noch die Einzelheiten dieses Programms genau erkennt, zu der Annahme neigen, dass es durch solche, weit über das ganze Land greifende Grundlage allen anderen, sonst verkündigten literarischen Heilsbotschaften überlegen, dass es nicht Werk und Weise einer zentrallokalisierten Minderheit, sondern wirklich allgemein national und fruchtbar an allerorten segensreichen Anregungen sein. könnte. Solche Auffassung entspräche aber nicht ganz der aktuellen Autorität des Wortes und der von ihm vertretenen Sache.

Wenngleich die Führer der regionalistischen Bewegung die Berechtigung und die Aussichten ihrer Bestrebungen nur aus französisch nationalen Ueberlieferungen, aus völkischen Verhältnissen und Bedürfnissen erklären und die naheliegende Beziehung auf verwandte ausländische Erscheinungen gerne zu meiden scheinen, lassen sich doch ihre, überdies schon durch Parteiunterschiede ergriffenen Grundsätze als eine Kombination etwa des italienischen regionalismo, den sie nirgends, und der deutsch-österreichischen Heimatkunst, die sie nur zuweilen erwähnen, vergleichsweise darstellen. Im neuen Italien ergab sich der Regionalismus als ein politischer Standpunkt, von dem die natürlichen Regionen statt der bestehenden künstlichen Bezirke als Verwaltungsgebiete gefordert werden; damit verband sich ein einheitsfeindlicher Partikularismus. Eine für diese Idee neuwerbende Bedeutung in Kunst und Literatur, die ohnehin mehr als bei jeder anderen Nation, in Italien von landschaftlichen Eigentümlichkeiten durchwuchert ist, kommt dem italienischen Regionalismo nicht zu. Demgegenüber ist die deutsche Heimatkunst, mag sie in der Pflege gewerblicher Eigenart oder in Landschaftsdichtung, Gebrauch der Mundart, Naturdenkmalschutz oder wie immer auch sonst sich äussern, eine rein geistige Bewegung ohne wesentlichen Sinn für das Staatsgefüge und doch, begünstigt durch die Selbständigkeit und Treue, mit der die grossen und kleinen Stammesgemeinschaften des Reiches unbeschadet der Einigkeit des Ganzen ihre althergebrachte Art bewahren, stärker und lauterer, als irgendwo in anderen Ländern. Der französische Regionalismus aber zeigt sich gleichzeitig als Reaktion oder Kampf gegen die Zentralisation der Verwaltung und des Wirtschaftslebens wie der nationalen Geisteskräfte in Literatur, Kunst, Wissenschaft und Unterricht.

Zeitschrift für franz. und engl. Unterricht. Bd. 13.

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In knappster Form kennzeichnete ein französischer Jurist von der Pariser Faculté libre de droit, Charles Lescoeur i. J. 1910 die Bewegung als au fond... la décentralisation que nous connaissions depuis cinquante ans et plus. Mais des revendications nouvelles sont venus s'y ajouter. Man begnüge sich nicht mehr, meint er weiter, eine grössere Selbständigkeit für die durch die Constituante der Revolution geschaffenen Landbezirke, die Départements und ihre Abteilungen zu verlangen, sondern beanspruche die Wiederherstellung der alten Provinzen oder aber einer administrativen Neueinteilung nach Massgabe der besonderen Volksgruppen in régions, pays etc. Die zweite Hauptforderung aber richte sich gegen die suprématie de Paris, l'araignée au centre de sa toile, et de ce centre souverain tenant en respect les 30 000 communes prises comme des moucherons dans la glu gouvernementale le chancre qui dévorera la France, si l'on ne pratique pas en temps utile l'opération nécessaire.

Kein kundiger französischer Regionalist aber könnte mit dieser summarischen Kennzeichnung zufrieden sein, und sie ist auch nicht erschöpfend, soll nur die Hauptsache angeben. Der Generalsekretär der regionalistischen Liga, Charles Brun, Professor am Collège des Sciences sociales in Paris, der eine ausführlich begründete Darstellung der verschiedenen Punkte ihres Programms gegeben hat, brauchte dazu, als er sein Buch Le Régionalisme i. J. 1911 schrieb, 300 Druckseiten, nachdem er über Les Littératures provinciales i. J. 1907 eine Schrift von 100 Seiten bereits veröffentlicht hatte; und die lebhafte Werbetätigkeit, die der von ihm vertretene Bund seit dem Jahre 1900 in seiner trefflichen über das ganze französische Land verbreiteten Organisation, in allen Kreisen der Nation, sowohl durch eine Monatsschrift l'Action régionaliste wie durch eine Reihe wohl überlegter Schriften entfaltet, haben bereits eine schwer übersehbare regionalistische Bibliothek geschaffen.

Das Schicksal des Wortes régionalisme,,,mot nouveau", wie Lescoeur sagt, qui ne figure pas encore dans le Dictionnaire de l'Académie, mais qu'on trouve depuis vingt ans sous la plume de nos publicistes, ist das aller Neologismen, die erst jahrelang in der Sprache der Zeitungen und des fachmässigen Meinungsaustausches leben, bis sie eine Legitimation für das allgemeine Wörterbuch erwerben. SachsVillatte haben es für das Supplement der 10. Auflage (1896) eingefangen, wenn auch mit der unbefriedigenden Uebersetzung Partikularismus, Lokalpatriotismus, der kleine Larousse illustré (1907) erklärt das Wort mit wunderlicher Einseitigkeit als tendance de ne considérer que les intérêts particuliers de la région qu'on habite, die Grande Encyclopédie kennt weder Wort noch Sache. Das beste deutsche Buch über Land und Staat in Frankreich (J. Ha a s, 1910) erwähnt auch nichts

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davon, man liest dort nur von der région militaire, wie in den meisten Wörterbüchern, von dem Aushebungsbezirk für die Armee. Ueberzeugte Vorkämpfer der Bewegung haben das Wort sehr klug ein mot d'attente genannt, das wie ein unbehauener Stein erst noch seine Gestalt, seinen Sinn, seine Zukunft in sich verschliesst,,,aus dem noch etwas werden kann".

Etwa ein Menschenalter jünger jedenfalls als das sinnverwandte folklore hat die Vokabel régionalisme ihre Geschichte, deren Anfang ins Jahr 1874 fällt, und deren Gang durch die praktische Berechnung des Werbeausschusses der Liga bestimmt worden ist, die nicht so sehr ein klangvolles, als vielmehr ein gegen Missdeutungen möglichst geschütztes Schlagwort besitzen wollte. Man setzte sie gegen andere in Wettbewerb gebrachte Bezeichnungen durch, die obwohl älter und von Freunden empfohlen, nicht so einwandfrei schienen; das waren namentlich die Worte fédéralisme und décentralisation, denen man gleichwohl in diesem Zusammenhange als Synonymen noch mehrfach in regionalistischen Schriften begegnet. Es ist bezeichnend, dass das Wort régionalisme, das schon seit 1874 im Umlauf war, zuerst in den Kreisen der provenzalischen Feliber als Etikett für ihre Bestrebungen vorgeschlagen, aber ebenfalls nicht angenommen wurde; man entschied sich damals (1892), als es sich um eine Kundgebung der jungen Feliber handelte, für fédéralisme und gab auch das ,,ausdruckslose" centralisation dafür preis. Zuerst erschien dann buchstäblich zwar, doch in etwas anderem Sinne als der heutige französische Ausdruck, ein regionalismo im benachbarten Catalonien in einer Denkschrift d. J. 1885; im Jahre 1898 tat sich in dem bretonischen Morlaix die erste Union régionaliste bretonne auf, deren Beispiel im März 1900 in Paris die heute die Zentrale der ganzen Bewegung bildende Fédération régionaliste française folgte; ihr Organ wurden die Bulletins der Action régionaliste. Mistral sprach damals sein Bedauern darüber aus, dass man nicht einen klangvolleren, ansprechenderen Ausdruck ausfindig gemacht hätte. In der Tat hat später der bessere Geschmack der Schriftsteller wenigstens für das gelehrte région ein schöneres Synonym eingebürgert: le terroir, altes, echtes Erbgut der Sprache, das nun auch in der bisher nur familiären Wendung il sent le terroir (man merkt ihm seine Heimat an) allgemein schrift- und buchfähig ward und in seinem Sinne unserer jungdeutschen Redensart vom „Erdgeruch" verwandt wurde. Das Wörtchen verleiht zuweilen den Titeln regionalistisch gerichteter Poesiesammlungen ihren charakteristischen Zug; so gibt es unter vielen ähnlichen Schlages eine Anthologie Lo Race et le Terroir (von A. Grimaud, Cabors 1903) und eine andere Les Poètes du terroir Heimatsdichter eine Sammlung von Gedichten des 15. bis 20. Jahrhunderts, die alle, z. T. unter berühm

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