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Es ist ein häufiges Vorkommnis in der Geschichte der Litteratur, dass Bücher, die von einer bewundernden Mitwelt überschwenglich gefeiert und viel gelesen werden, späterhin völlig in Vergessenheit geraten oder ungerechter Geringschätzung anheimfallen. Wohl selten ist jemals Werken dieses Schicksal in so hohem Masse zu teil geworden, wie denen Mrs. Ann Radcliffes. Wie ein leuchtendes Meteor, vor dessen Glanz eine Weile selbst die Romane eines Fielding und Smollet verblichen, stieg sie am litterarischen Himmel ihrer Zeit empor; mit ihren vielgepriesenen Produkten alles verdrängend, bis Walter Scott sie und ihre Schule ablöste und an Stelle der Gothic Romance den historischen Roman setzte. Wie Mrs. Radcliffe selbst das von dem letzteren später mit so grossem Erfolg angebaute Gebiet bereits im Jahre 1802 betreten und der Gothic Romance durch Verschmelzung mit historischen Elementen neue Lebensfähigkeit zu verleihen gesucht hat, davon später; - wenden wir uns jetzt der Besprechung ihrer einzelnen Werke zu, und sehen wir, wie sich unsere Art des Romanes unter ihren Händen weiter entwickelt hat. Folgende vier Romane sind es, die da für uns zunächst in Betracht kommen:

1. The Castles of Athlin and Dunbayne (London 1789), das wenig erfolgreiche Erstlingswerk Mrs. Radcliffes, das sie im Alter von 25 Jahren der Öffentlichkeit übergab. Eine weit günstigere Aufnahme fand

2. A Sicilian Romance (London 1790, 2 vols.). Eine deutsche Übersetzung von ,,A Sicilian Romance" ver

anstaltete D. M. Liebeskind unter dem Titel: „Die nächtliche Erscheinung im Schlosse Mazzini". (Hannover 1792, 2 Bde.) Ungleich grösser war der Erfolg von

3. The Romance of the Forest: interspersed with some pieces of poetry (London, T. Hookham and J. Carpenter, 1791, 3 vols.). Dies beweist schon die Thatsache, dass sich bereits im nächsten Jahre eine 3. Auflage nötig machte, und dass der Roman bald nach seinem Erscheinen ins Französische und Italienische übersetzt wurde. Ins Deutsche übertrug das Werk D. M. Liebeskind (Adeline oder das Abenteuer im Walde. Leipzig, Böhme, 1793. 3 Bde.) 1). Der Stoff erfreute sich einer so grossen Beliebtheit, dass ihn ein gewisser John Boaden unter dem Titel,,Fountainville Forest" auf die Bühne brachte. Der nächste Roman Mrs. Radcliffes

4. The Mysteries of Udolpho: a Romance; interspersed with some pieces of poetry (4 vols.) erschien im Jahre 1794 bei Messrs. Robinson in London, die von der Verfasserin das Verlagsrecht für den noch nie dagewesenen Preis von £ 500 erworben hatten. Von der begeisterten Aufnahme, die der Roman fand, sagt Scott 2):,,The public, who rushed upon it with all the eagerness of curiosity, rose from it with unsated appetite. When a family was numerous, the volumes flew, and were sometimes torn from hand to hand, and the complaints of those whose studies were thus interrupted, were a general tribute to the genius of the author". Eine Übersetzung ins Französische unternahm ein gewisser Chastenay, eine solche ins Deutsche. wiederum D. M. Liebeskind (Udolphos Geheimnisse, Riga, Hartknoch, 1795 f., 4 Bde.)3).

1) Vergl. Allg. Litt.-Ztg. 1793. No. 346.

2) Lives of the Novelists by Sir Walter Scott, II, 47.
3) Vergl. Allg. Litt.-Ztg. 1795 No. 296.

Goth. gel. Ztg. 1797, 886 f.

Kurz befassen können wir uns bei der Betrachtung der beiden erstgenannten Romane, da diese ziemlich schwach und unbedeutend sind und zudem an charakteristischer Eigenart nichts besitzen, was wir nicht auch in The Romance of the Forest" und ,,The Mysteries of Udolpho" wiederfinden könnten.

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Zunächst einige Bemerkungen über,,The Castles of Athlin and Dunbayne". Wie schon aus dem Titel des Romans hervorgeht, werden wir hier nicht, wie meist in den späteren Werken Mrs. Radcliffes, in irgend eins der südlichen Länder, sondern in die Berge Schottlands versetzt, und zwar ,,on the north-east coast of Scotland, in the most romantic part of the Highlands" 1). Von lokaler oder historischer Treue (der Roman spielt zur Zeit der frühmittelalterlichen Stammesfehden) 2), oder von einer Schilderung schottischer Sitten oder Eigentümlichkeiten ist dabei in dem Buche nichts zu finden, in dem, wie bei Walpole und Miss Reeve, die alten Schlösser im Mittelpunkt des Interesses stehen und die handelnden Personen weit in den Hintergrund drängen.

Wie,,The Old English Baron" weisen auch,,The Castles of Athlin and Dunbayne" deutliche Spuren von dem Einfluss des ,,Castle of Otranto" auf. Gleich Manfred und Lord Lovel ist Malcolm auf unrechtmässige Weise in den Besitz von Schloss und Herrschaft Dunbayne gelangt. Auch hier ist der legitime Erbe, Alleyn of Dunbayne, noch am Leben und von Hirten als Findelkind aufgezogen worden. Furchtlos und mit edlem Anstand tritt er dem gewaltthätigen Malcolm entgegen und bringt diesen durch seine

1) The Castles of Athlin and Dunbayne, cap. I.

2) Eine nähere Zeitangabe fehlt.

Freimütigkeit so gegen sich auf, dass er, wie Theodore im

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Castle of Otranto", sein Leben nur durch schleunige Flucht retten kann. Fanden wir in dem Romane Walpoles den Usurpator Manfred bestrebt, durch die Heirat mit Isabella seiner wankenden Herrschaft eine neue Stütze zu verleihen, so sehen wir in ,,The Castles of Athlin and Dunbayne" den Baron Malcolm aus ganz ähnlichen Gründen geneigt, eine Ehe einzugehen. Seine Wahl ist auf Mary von Athlin, die liebliche Schwester des im Kerker von Dunbayne schmachtenden Osbert von Athlin, gefallen. Mary aber liebt bereits den tapferen Alleyn und wird von diesem, wie Isabella von Theodore, aus der Gewalt des verhassten Tyrannen befreit. Demungeachtet ist gleich Manfred Malcolm fest gewillt auf den Besitz der Entflohenen nicht zu verzichten und droht, ihren gefangenen Bruder hinrichten zu lassen, wenn sie seiner erneuten Bewerbung nicht Gehör gebe. Wie in,,The Castle of Otranto" Matilda bereit ist ihre Liebe dem Wohl ihres Hauses zu opfern und den Marquis Friedrich zum Gemahl zu nehmen, so beschliesst jetzt Mary von Alleyn zu lassen und durch die Heirat mit Malcolm das Leben des Bruders zu retten. Dieser aber will von einer Befreiung um einen solchen Preis nichts wissen und verbietet Mary, auf die Anträge Malcolms einzugehen. Kurz darauf gelingt es ihm aus dem Kerker von Dunbayne zu entkommen, nachdem er vorher noch mit Malcolms Nichte Laura einen innigen Liebesbund geschlossen hat. In der darauf ausbrechenden Fehde zwischen denen von Athlin und Dunbayne fällt Malcolm von Osberts Hand und durch ein Muttermal 1), das Alleyn am Arm hat, stellt es sich heraus, dass er nicht ein Abkömmling armer Hirten, sondern Lauras Bruder und der rechtmässige Herr von Dunbayne ist. Mit der Doppel

1) Vergl. oben, S. 39.

hochzeit des Geschwisterpaares findet der Roman sein Ende.

Unter dem Einfluss ihrer Vorgänger zeigt sich Mrs. Radcliffe auch bei der Zeichnung der einzelnen Personen des Werkes. Wie die Gestalten Marys und Lauras denen Matildas und Isabellas im,,Castle of Otranto" nachgeahmt sind, so erinnert Mathilde, die Mutter Osberts und Marys, an die Hippolita Walpoles, und das Liebesverhältnis zwischen Alleyn und Mary an das Theodores und Matildas im,,Castle of Otranto" (bezw. das Edmunds und Emmas im „Old English Baron"). Was Alleyn selbst betrifft, so haben wir in ihm eine Verschmelzung von Walpoles Theodore und Miss Reeves Edmund zu erblicken, ebenso wie wir in Malcolm eine solche von Manfred und Lord Lovel erkennen möchten.

Weit mehr wie in ,,The Castles of Athlin and Dunbayne" treten die Eigenheiten Mrs. Radcliffes schon in dem angeblich einer alten Klosterhandschrift entnommenen Roman,,A Sicilian Romance" hervor. Auch hier ist es ein altes gotisches Schloss, das in der Nähe von Palermo gelegene Mazzini, das die Hauptrolle in dem Roman spielt. Wie Schloss Lovel im „Old English Baron" hat Mazzini einen verlassenen abgeschlossenen Flügel, in dem nächtlicherweile Lichterglanz und andere seltsame Erscheinungen beobachtet werden. Nachdem durch eine eingehende Schilderung dieser Vorkommnisse und die aufregenden Abenteuer Ferdinands in dem alten Schlossflügel unsere Erwartung aufs höchste gespannt worden ist, werden wir plötzlich, ohne dass unserer Neugier Genüge geschieht, von Mazzini hinweg in die umliegende sizilianische Landschaft geführt. Anlass dazu giebt die Flucht der Heldin Julia, die von ihrem Vater, dem hartherzigen Marquis von Mazzini, gezwungen werden soll, ihrer Neigung für Hippolitus de Vereza zu entsagen und dem ungeliebten Herzog von

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