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Wir werden uns also nicht verhehlen können, dass die meisten Haare des Menschen degenerierte Organe sind, Residuen aus alter Zeit. Damit ist aber nicht gesagt, dass sie physiologisch bedeutungslos sind. Wenn, wie Moleschott fand, der Mensch täglich 0-2 g Haarsubstanz bildet, so sind die dazu verbrauchten Stoffe vielleicht nicht ausschließlich zur Anlockung des anderen Geschlechtes verwendet. Kann sich doch die Funktion eines Organes im Laufe der phylogenetischen Entwicklung ändern. Ja, in neuerer Zeit werden gerade die typischen Haare selbst als Beispiele einer solchen Wandlung angeführt, indem man sie als degenerierte Sinnesorgane aus früheren Perioden der Entwicklung der Wirbeltiere ansieht.

Fr. Maurer') hat auf Grund morphologischer Forschungen die These aufgestellt, dass gewisse aus Epithelien bestehende Gebilde der Körperoberfläche von Fischen und besonders von Amphibien die Urform der Haare darstellen. Innerhalb eines schützendes Wulstes von Epidermiszellen findet sich eine Gruppe von mit Nervenfasern in Beziehung tretenden zylindrischen Zellen. In der Trockenheit verlieren die Organe ihre Bedeutung als Sinnesorgane, die hinzutretenden Nerven sind beim Verfolgen durch die phylogenetische Reihe nicht mehr zu finden, die Zylinderzellen büßen die typische Form des Sinnesepithels ein. Sie bilden einen Zapfen von unregelmäßig geformten Epithelzellen, welche verhornen und das Mark des Haares darstellen, während die herumgelagerten Epidermiszellen, ebenfalls verhornend, sich außen anschmiegen und die übrigen Bestandteile des Haares sowie seiner epithelialen Scheiden aufbauen.

Hier hätten wir es also mit einem Wandel der Funktionen eines Organes zu thun, der größer kaum gedacht werden kann. Von einer Gruppe Sinnesorgane bis zu dem gegen Witterungseinflüsse schützenden Pelz scheint ein weiter Schritt. Die Haare wären degenerierte Sinnesorgane.

Ob dieser Schritt wirklich gethan wurde, oder die mitgeteilte Deutung vom Ursprunge der Haare weiteren Forschungen wird weichen müssen das darf doch wohl angenommen werden, dass das Haarkleid eines der Urahnen des Menschengeschlechtes in allen seinen Anteilen nicht notwendig genau dieselbe Funktion gehabt haben wird. An verschiedenen Körperstellen werden die Haare in ungleicher Weise zum Nutzen und Frommen des Individuums gegen Schädlichkeiten gewirkt und sich diesen wechselnden Bedingungen im Laufe der Generationen wohl auch in Länge, Stärke, Farbe und feinerer Struktur angepasst haben. Ich brauche nur an die Schnurrhaare der Tiere, die exquisite Tastorgane sind, oder an den Unterschied zwischen dem flaumigen Pelz der Bauchseite und dem steiferen des Rückens,

1) Die Epidermis und ihre Abkömmlinge. Leipzig 1895.

an dem der Regen abrinnen, der Hagel abprallen soll, zu erinnern. Es hat sich also frühzeitig eine Differenzierung im Genus „Haar“ eingestellt.

Wenn nun in den Uebergangsperioden zum heutigen Menschen eine Kraft auftrat, die im Sinne der Enthaarung wirkte, aber, wie das Resultat zeigt, an einer Reihe von Körperstellen keinen Effekt hervorbrachte, wenn sie auch am größten Teil der übrigen Hautoberfläche ihr Ziel nicht völlig erreichte, so könnte das an der noch zu kurz dauernden Wirkung liegen; es könnte aber auch auf der Unentbehrlichkeit gewisser Anteile des ursprünglichen Haarkleides beruhen. Den Haaren sind vielleicht in jenen alten Zeiten Funktionen aufgebürdet worden, welche nun vom Organismus nicht entbehrt werden können, und die sich im Kampfe ums Dasein als ebenbürtige Gegner des haarfeindlichen Geschmackes erweisen.

Ich muss es für wahrscheinlich halten, dass diese letztgenannten Umstände in der That die Grundlage des heutigen Zustandes unseres spärlichen Haarkleides bilden. Denn wo sich am Körper Haare befinden, scheinen sie mir entweder ein, dem umformenden Geschmacke entsprungener, sekundärer Geschlechtscharakter im Darwin'schen Sinne zu sein, oder eine Funktion zu haben, die nicht leicht ohne Nachteile für die Erhaltung des Genus in Wegfall kommen könnte. In einzelnen Fällen mögen diese beiden Faktoren im selben Sinne wirken.

Dem Gesagten zufolge werden die Funktionen der Haare an verschiedenen Körperstellen verschiedene sein, und so will ich an die Besprechung der, wie mir scheint, wichtigsten gehen.

I. Das Haar als Tastorgan.

Die Erfahrung, dass die leichteste Berührung an den Cilien der menschlichen Augenlider reflektorische Blinzelbewegungen auslöst und empfunden wird, veranlasste mich schon vor einer Reihe von Jahren Herrn Dr. v. Mises die Untersuchung der Nerven dieser Haare zu empfehlen. Seine Studien1) lehrten ihn ein aus markhaltigen Fasern bestehendes, korbartiges Geflecht kennen, das wie ein Ring eine Stelle des Haarbalges jeder Cilie umgibt. Es liegt unter der Einmündung der Talgdrüsen. Bei Durchsicht der Litteratur zeigte sich, dass dieser Fund nicht neu war. Jobert 2) hatte schon vor uns diesen Ring an menschlichen Haaren und speziell auch an den Cilien gesehen und beschrieben. Beil, Arnstein und Bonnet haben die analogen Nervengebilde an den Haaren verschiedener Tiere untersucht, ohne

1) Ueber die Nerven der menschlichen Augenlider. Sitzungsbericht der Akademie der Wissenschaften zu Wien, Bd. 85, 3. Abteilung, März 1882.

2) Compt. rend. de l'académie des sciences, Paris 1875, Janvier, p. 274.

wesentlich mehr zu finden als Jobert schon an den menschlichen Haaren gefunden hatte. Des Letzteren schöne Resultate, sowie die Ergebnisse von v. Mises scheinen kaum beachtet worden zu sein, wie ich daraus schließe, dass selbst ein so gewissenhafter Autor wie G. Schwalbe in seinem Lehrbuch der Anatomie der Sinnesorgane von denselben nichts erwähnt und sagt: „Leider sind bisher die menschlichen Haare auf ihre sensiblen Nerven kaum untersucht".

v. Mises bezeichnete schon damals die Cilien des Menschen als „Tasthaare". Sie hatten sich bei der mikroskopischen Untersuchung als reichlich mit Nerven versehen herausgestellt und verdienten diesen Namen, wiewohl sie den Nervenreichtum der sogenannten Sinneshaare vieler Säuger noch nicht erreichen, auch wegen der durch die physiologische Prüfung leicht erkennbaren außerordentlichen Empfindlichkeit. Eine, wenn auch geringere, doch recht ausgeprägte Empfindlichkeit zeigten auch die kleineren Haare an den weniger behaarten Hautstellen (Handrücken, Streckseite der Arme und Beine), so dass der aus jüngster Zeit stammende Ausspruch M. v. Frey's 1) vollkommen zutreffend erscheint: „Die Behaarung der Haut stellt den empfindlichsten Tastapparat des Körpers dar, jedes Haar einen Hebel, dessen kurzer Arm in der Haut steckt, während der lange Arm dem Reiz zum Angriffe dient". Dabei ist freilich nur an eine gewisse Art des Reizes und nicht an alle mit sogenanntem Tastsinne begabten Körperstellen gedacht.

Prüft man die Haare, indem man sie einzeln mit einer Nadel aus ihrer natürlichen Lage biegt, so bemerkt man die außerordentlich große Empfindlichkeit der Cilien. Berührt die Nadel die Spitze einer Cilie so, dass eine Verbiegung derselben noch gar nicht mit Sicherheit gesehen werden kann, so sagt der Beobachtete, er fühle es, und es stellen sich gewöhnlich auch, trotz absichtlichen Augenschließens, reflektorisch Blinzelbeweguugen ein. Ich hatte ein Stäubchen Eisen (Eisenfeile) an eine Cilie geklebt, der Stromschluss eines genäherten Elektromagneten verursachte Empfindungen, als würde ein Gegenstand die Cilien berühren, dabei war die Anziehung eine so geringe, dass an der Cilie eben eine unscheinbare Bewegung sichtbar war.

Immer noch recht empfindlich, wenn auch den Cilien nachstehend, erweisen sich die Augenbrauen. Bei der verschiedenen Beschaffenheit in Länge, Dicke und vor Allem in Steifheit der Haare kann bei dem Vergleiche ihrer Empfindlichkeit, den ich in der angeführten Weise vorgenommen habe, natürlich nur von einer annähernden Schätzung gesprochen werden. Sie genügt aber doch wohl, um zu behaupten, diese um das Auge angeordneten Haare seien die empfindlichsten am menschlichen Körper. Sind die sensorischen Nerven überhaupt als

1) Beiträge zur Physiologie des Schmerzsinues. Berichte der mathematischphysischen Klasse der k. sächsischen Akademie der Wissenschaften zu Leipzig, 2. Juli 1894.

Wächter zu betrachten, welche den Körper vor drobenden Gefahren rechtzeitig zu warnen haben, so sind die Nerven der genannten Haare, sowie die überaus erregbaren Nerven der Cornea und Conjunctiva als ein besonders fein organisierter Schutzapparat des Bulbus aufzufassen.

In der That ziehen die Verletzungen dieses Sinnesorganes weit üblere Folgen für den Organismus nach sich als die der meisten, in gewissem Sinne aller übrigen Stellen der Körperoberfläche. Dabei bilden die Brauen nach oben, die Spitzen der Wimpern nach vorne vorgeschobene Posten, damit der reflektorische Impuls zum Lidschluss der von oben oder vorne eindringenden Schädlichkeit vorauseilend noch rechtzeitig den Bulbus schützt.

Ich will nicht behaupten, dass diese Funktionen die einzigen seien, welche den genannten beiden Haargruppen zukommen. Sie halten den von der Stirne herabrinnenden Schweiß vom Vordringen in die Lidspalte ab, und die Wimpern dürften wohl auch als Filter gegen Staub, als Dach gegen Regen zu betrachten sein. Uebrigens wäre es wohl kaum berechtigt, der Behauptung entgegenzutreten, die Brauen, ja vielleicht auch die Cilien seien als Schmuck durch Zuchtwahl erhalten geblieben. Es können eben mancherlei Kräfte mitgewirkt haben, dasselbe Ziel zu erreichen.

In der Reihe der Erregbarkeit dürften sodann die kleinen Haare (ich möchte sie nicht gerne Lanugo nennen, denn sie haben einen anderen Charakter als die dichten Wollhaare des Embryo oder Neugeborenen) folgen, welche am Gesicht außer dem Barte und am größten Teile der Hautoberfläche vorkommen. Seit Jahren suche ich meinen Schülern die Rolle der kleinen Körperhaare als Tastorgane durch Schilderung folgenden Versuches und Anregung zur Wiederholung desselben einzuprägen. Wenn man im Wannenbade sitzt und mit den Fingern einer Hand in der Nähe des Körpers eine Ruderbewegung macht, so läuft eine dem Kitzel nahestehende, wellenartig fortschreitende Tastempfindung eine Strecke weit über den Körper. Es gelingt leicht eine solche am Oberschenkel erregte Welle bis in die Brustgegend fortschreiten zu lassen. Die Handbewegung kann eine derartige sein, dass an der Oberfläche des Wassers keine Welle entsteht, also nicht etwa wirklich eine Zone gesteigerten Wasserdruckes über den Körper abläuft. Die Empfindung beruht vielmehr auf der durch die Hand erzeugten Verschiebung der Wasserteilchen, die nun ihrerseits die Haare aus ihrer Gleichgewichtslage biegen. Da jene Wasserverschiebung mit geringer Geschwindigkeit wellenartig fortschreitet, so verursacht die Verbiegung der Haare eine Gefühl, als würde etwas sehr leichtes an dem Körper vorbeistreichen.

Unempfindlicher als diese Haare sind die Kopf- und Barthaare und am meisten vom Typus der Tasthaare entfernt stehen jene der Urogenital- und Analgegend, sowie die der Achselhöhle. Wiewohl es

sich hier meist um dicke und steife Haare handelt, kann man nicht selten ein solches ausgiebig hin- und herbiegen, ohne dass es eine Empfindung veranlasst.

II. Das Haar als Walze.

Es ist mir nicht bekannt, dass auf die Funktion des Haares als Walze schon jemals aufmerksam gemacht worden ist. Und doch dürfte sie ziemlich nahe liegen. Ueberall da, wo sich bei den gewöhnlichsten Bewegungen des Körpers (z. B. Gehen) zwei Hautflächen aneinander reiben, sind zwischen ihnen Haare eingelagert. Solche Orte sind die Achselhöhlen, die Analfalte, die Perinealgegend mit ihrem Uebergang zum Scrotum, oder zu den Labia majora, sowie die Außenflächen der letzteren selbst.

Hier herrscht gekräuseltes und wirr durcheinander stehendes Haar vor, d. h. es pflegt jedes Haar für sich in der natürlichen Lage nach verschiedenen Richtungen gekrümmt zu sein, und die Richtung selbst benachbarter Haare nicht übereinzustimmen. Zwei Stücke mit solchen Haaren bekleideter Haut müssen, wenn sie aneinander gleiten, die Haare zwischen sich wälzen, wobei immer jene Anteile der Haare, deren Längsaxen senkrecht auf die Richtung der Bewegung stehen, sich am meisten um ihre Achsen drehen werden. Man denke sich runde Bleistifte in kleinen Abständen parallel nebeneinander gelegt, auf ihnen und mit ihnen gekreuzt eine zweite ebensolche Lage von Bleistiften, auf die nun ein Buch gelegt werde. Schiebe ich das Buch in der Richtung, nach welcher die Bleistifte der zweiten Lage weisen, so wird die erste Lage durch Rollbewegung dem Drucke nachgeben. Die zweite wird dasselbe thun, wenn ich die Verschiebung des Buches um 90 Grad ändere. Denken wir uns viele Lagen von vielen Richtungen, so wird das Buch, wohin immer ich es schieben will, Bleistifte in Rotation versetzen. Es ist nun selbstverständlich gleichgiltig, ob die als Walzen wirkenden Gebilde in regelmäßigen Schichten angeordnet sind, oder ob sie, wie jene Haare wirr durcheinander liegen, wenn nur überhaupt mehrere Schichten und mehrere Verlaufsrichtungen vorhanden sind.

Den Wert dieser, zwischen den zwei Hautstrecken eingelagerten Haarwalzen sehe ich natürlich darin, dass erstere viel leichter aneinandergleiten, als wenn sie nackt wären. Von dem ganz bedeutenden Unterschiede kann sich jeder sofort eine Anschauung bilden. Er drücke die Fingerbeeren des Daumens und Zeigefingers so fest aneinander, dass die Verschiebung derselben gegeneinander (als sollte etwas zwischen den Fingern gewalkt werden) nur mehr schwer und ruckweise möglich. ist. Jetzt fasse er ein Büschel krausen Barthaares zwischen dieselben Finger, presse sie womöglich ebenso stark zusammen und er wird bemerken, dass die Verschiebung nun ganz leicht und glatt von Statten

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