Imagens das páginas
PDF
ePub

diesen Umständen, man gebe ihm aber Gesundheit, und Kräfte, und Industrie, und es ist ein Robinson Crusoe, der auf unser Mitleid wenig Anspruch macht, ob uns gleich sein Schicksal sonst gar nicht gleichgültig ist. Denn wir sind selten mit der menschlichen Gesellschaft so zufrieden, daß uns die Ruhe, die wir ausser derselben geniessen, nicht sehr reißend dünken sollte, besonders unter der Vorstellung, welche jedes Individuum schmeichelt, daß es fremden Beystandes nach und nach kann entbehren lernen. Auf der andern Seite gebe man einem Menschen die schmerzlichste unheilbarste Krankheit, aber man denke ihn zugleich von gefälligen Freunden umgeben, die ihn an nichts Mangel leiden lassen, die sein Uebel, so viel in ihren Kräften stehet,

Vicinum, ploraret apud quem

Vehementer edacem atque cruentum

Morbum mutuo.

Wenn diese Uebersehungen ihre Richtigkeit haben, so sagt der Chor das Stärkste, was man nur immer zum Lobe der menschlichen Gesellschaft sagen kann: Der Elende hat keinen Menschen um sich; er weis von keinem freundlichen Nachbar; zu glücklich, wenn er auch nur einen bösen Nachbar hätte! Thomson würde sodann diese Stelle vielleicht vor Augen gehabt haben, wenn er den gleichfalls in eine wüste Insel von Bösewichtern ausgeseßten Melisander sa gen läßt:

Caft on the wildeft of the Cyclad isles

Where never human foot had marked the shore

[ocr errors]

Thefe Ruffians left me yet believe me, Arcas,
Such is the rooted love we bear mankind

All ruffians as they were, I never heard
A found fo dismal as their parting oars.

Auch ihm wäre die Gesellschaft von Bösewichtern lieber gewesen, als gar keine. Ein grosser vortreflicher Sinn! Wenn es nur gewiß wäre, daß Sophokles auch wirklich so etwas gesagt hätte. Aber ich muß ungern bekennen, daß ich nichts dergleichen bey ihm finde; es wäre denn, daß ich lieber mit den Augen des alten Scholiasten, als mit meinen eigenen sehen wollte, welcher die Worte des Dichters so umschreibt: Ou uovov Exov zahov ovz ειχε τινα των εγχωρίων γείτονα, άλλα ουδε κακον, παρ' ου ἀμοιβαιον λογον ςενάζων ἀκούσειε. 23ie biefer 9tuslegung bie angefiibrtem lleberfcger gefolgt sind, so hat sich auch eben so wohl Brumoy, als unser neuer deutscher Ueberseher daran gehalten. Jener sagt, fans focieté, meme importune; und dieser „jeder Gesellschaft, auch der beschwerlichsten beraubet." Meine Gründe, warum ich von ihnen allen abgehen muß, sind diese. Erstlich ist es offenbar, δαβ menu κακογειτονα του την εγχωρων getrennet werden, unb

erleichtern, gegen die er unverhohlen klagen und jammern darf: unstreitig werden wir Mitleid mit ihm haben, aber dieses Mitleid dauert nicht in die Länge, endlich zucken wir die Achsel und verweisen ihn zur Geduld. Nur wenn beyde Fälle zusammen kommen, wenn der Einsame auch seines Körpers nicht mächtig ist, wenn dem Kranken eben so wenig jemand anders hilft, als er sich selbst helffen kann, und seine Klagen in der öden Luft verfliegen: alsdann sehen wir alles Elend, was die menschliche Natur treffen kann, über den Unglücklichen zusammen schlagen, und jeder flüchtige Gedanke, mit dem wir uns an seiner Stelle denken, erreget Schaudern und Entseßen. Wir erblicken nichts. als die Verzweiflung in ihrer schrecklichsten Gestalt vor uns,

ein besonders Glied ausmachen sollte, die Partikel ovde vor nazoysitova nothwendig wiederhohlt seyn müßte. Da sie es aber nicht ist, so ist es eben so offenbar, daß nanoyɛitova ju tiva gehöret, und das Komma nach ¿y. xwę wv wegfallen muß. Dieses Komma hat sich aus der Ueberseßung eingeschlichen, wie ich denn wirklich finde, daß es einige ganz griechische Ausgaben (z. E. die Wittenbergische von 1585 in 8, welche dem Fabricius völlig unbekannt geblieben) auch gar nicht haben, und es erst, wie gehörig, nach zaxoyɛitova seßen. Zweytens, ist das wohl ein böser Nachbar, von dem wir uns ςονον ἀντιτυπον, ἀμοιβαιον wie es der Scholiaft erflärt, ber= sprechen können? Wechselsweise mit uns seufzen, ist die Eigenschaft eines Freundes, nicht aber eines Feindes. Kurz also: man hat das Wort zɑxoyɛɩtova unrecht verstanden; man hat angenommen, daß es aus dem Adjectivo κακος jufammen gefekt fey, und es ift aus rem Subftantivo το κακον sammen gesetzt; man hat es durch einen bösen Nachbar erklärt, und hätte es durch einen Nachbar des Bösen erklären sollen. So wie xaxquavrig nicht einen bösen, das ist, falschen, unwahren Propheten, sondern einen Propheten des Bösen, nɑxotexvos nicht einen bösen, ungeschickten Künstler, sondern einen Künstler im Bösen bedeuten. Unter einem Nachbar des Bösen versteht der Dichter aber denjenigen, welcher entweder mit gleichen Unfällen, als wir, behaftet ist, oder aus Freundschaft an unsern Unfällen Antheil nimt; Το δαβ δίε gangen Borte ουδ' ἔχων τιν' ἐγχωρων κακογειτονα blog surd neque quenquam indigenarum mali focium habens zu übersehen sind. Der neue Englische Ueberseher des Sophokles, Thomas Franklin, kann nicht anders als meiner Meynung gewesen seyn, indem er den bösen Nachbar in xαnoyɛitwv auch nicht findet, sondern es bloß durch fellow-mourner überseßet: Expos'd to the inclement skies,

Deferted and forlorn he lyes,

No friend nor fellow-mourner there,

To footh his forrow, and divide his care.

und kein Mitleid ist stärker, keines zerschmelzet mehr die ganze Seele, als das, welches sich mit Vorstellungen der Verzweiflung mischet. Von dieser Art ist das Mitleid, welches wir für den Philoktet empfinden, und in dem Augenblicke am stärkften empfinden, wenn wir ihn auch seines Bogens beraubet sehen, des einzigen, was ihm sein kümmerliches Leben erhalten mußte. - des Franzosen, der keinen Verstand, dieses zu überlegen, kein Herz, dieses zu fühlen, gehabt hat! Oder wann er es gehabt hat, der klein genug war, dem armseligen Geschmacke seiner Nation alles dieses aufzuopfern. Chataubrun giebt dem Philoktet Gesellschaft. Er läßt eine Prinzeßin Tochter zu ihm in die wüste Insel kommen. Und auch diese ist nicht allein, sondern hat ihre Hofmeisterin bey sich; ein Ding, von dem ich nicht weis, ob es die Prinzeßin oder der Dichter nöthiger gebraucht hat. Das ganze vortrefliche Spiel mit dem Bogen hat er weggelassen. Dafür läßt er schöne Augen spielen. Freylich würden Pfeil und Bogen der französischen Heldenjugend sehr luftig vorgekommen seyn. Nichts hingegen ist ernsthafter als der Zorn schöner Augen. Der Grieche martert uns mit der gräulichen Besorgung, der arme Philoktet werde ohne seinen Bogen auf der wüsten Insel bleiben und elendiglich umkommen müssen. Der Franzose weis einen gewissern Weg zu unsern Herzen: er läßt uns fürchten, der Sohn des Achilles werde ohne seine Prinzeßin abziehen müssen. Dieses hiessen denn auch die Pariser Kunstrichter, über die Alten triumphiren, und einer schlug vor, das Chataubrunsche Stück la Difficulté vaincue zu benennen. 6

3. Nach der Wirkung des Ganzen betrachte man die einzeln Scenen, in welchen Philoktet nicht mehr der verlassene Kranke ist; wo er Hoffnung hat, nun bald die trostlose Einöde zu verlassen und wieder in sein Reich zu gelangen; wo sich also sein ganzes Unglück auf die schmerzliche Wunde einschränkt. Er wimmert, er schreyet, er bekömmt die gräßlichsten Zuckungen. Hierwider gehet eigentlich der Einwurf des beleidigten Anstandes. Es ist ein Engländer, welcher diesen Einwurf macht;

b) Mercure de France, Avril 1755. p. 177.

ein Mann also, bey welchem man nicht leicht eine falsche Delicatesse argwohnen darf. Wie schon berührt, so giebt er ihm auch einen sehr guten Grund. Alle Empfindungen und Leidenschaften, sagt er, mit welchen andere nur sehr wenig sympathisiren können, werden anstössig, wenn man sie zu heftig ausdrückt. c,,Aus diesem Grunde ist nichts unanständiger, und ei ,,nem Manne unwürdiger, als wenn er den Schmerz, auch den ,,allerheftigsten, nicht mit Geduld ertragen kann, sondern wei„net und schreyet. Zwar giebt es eine Sympathie mit dem ,,körperlichen Schmerze. Wenn wir sehen, daß jemand einen „Schlag auf den Arm oder das Schienbein bekommen soll, so ,,fahren wir natürlicher Weise zusammen, und ziehen unsern „eigenen Arm, oder Schienbein, zurück; und wenn der Schlag ,,wirklich geschieht, so empfinden wir ihn gewissermaassen eben ,,sowohl, als der, den er getroffen. Gleichwohl aber ist es ge„wiß, daß das Uebel, welches wir fühlen, gar nicht beträchtlich „ist; wenn der Geschlagene daher ein heftiges Geschrey erregt, ,,so ermangeln wir nicht ihn zu verachten, weil wir in der ,,Verfassung nicht sind, eben so heftig schreven zu können, als ,,er." — Nichts ist betrüglicher als allgemeine Geseze für unsere Empfindungen. Ihr Gewebe ist so fein und verwickelt, daß es auch der behutsamsten Speculation kaum möglich ist, einen einzeln Faden rein aufzufassen und durch alle Kreuzfäden zu verfolgen. Gelingt es ihr aber auch schon, was für Nugen hat es? Es giebt in der Natur keine einzelne reine Empfindung; mit einer jeden entstehen tausend andere zugleich, deren geringste die Grundempfindung gänzlich verändert, so daß Ausnahmen über Ausnahmen erwachsen, die das vermeintlich allgemeine Gesetz endlich selbst auf eine blosse Erfahrung in wenig einzeln Fällen einschränken. Wir verachten denjenigen, sagt der Engländer, den wir unter körperlichen Schmerzen heftig schreyen hören. Aber nicht immer: nicht zum erstenmale; nicht, wenn wir sehen, daß der Leidende alles mögliche anwendet, seinen Schmerz zu verbeiffen; nicht, wenn wir ihn sonst als einen Mann von Standhaftigkeit kennen; noch weniger,

c) The Theory of Moral Sentiments, by Adam Smith. Part I. fect. 2. chap. 1. p. 41. (London 1761.)

wenn wir ihn selbst unter dem Leiden Proben von seiner Standhaftigkeit ablegen sehen, wenn wir sehen, daß ihn der Schmerz zwar zum Schreyen, aber auch zu weiter nichts zwingen kann, daß er sich lieber der längern Fortdauer dieses Schmerzes unterwirft, als das geringste in seiner Denkungsart, in seinen Entschlüssen ändert, ob er schon in dieser Veränderung die gänzliche Endschaft seines Schmerzes hoffen darf. Das alles findet sich bey dem Philoktet. Die moralische Grösse bestand bey den alten Griechen in einer eben so unveränderlichen Liebe gegen seine Freunde, als unwandelbarem Hasse gegen seine Feinde. Diese Grösse behält Philoktet bey allen seinen Martern. Sein Schmerz hat seine Augen nicht so vertrocknet, daß sie ihm keine Thränen über das Schicksal seiner alten Freunde gewähren könnten. Sein Schmerz hat ihn so mürbe nicht gemacht, daß er, um ihn los zu werden, seinen Feinden vergeben, und sich gern zu allen ihren eigennügigen Absichten brauchen lassen möchte. Und diesen Felsen von einem Manne hätten die Athenienser verachten sollen, weil die Wellen, die ihn nicht erschüttern können, ihn wenigstens ertönen machen? Ich bekenne, daß ich an der Philosophie des Cicero überhaupt wenig Geschmack finde;· am allerwenigsten aber an der, die er in dem zweyten Buche seiz ner Tusculanischen Fragen über die Erduldung des körperlichen Schmerzes austramet. Man sollte glauben, er wolle einen Gladiator abrichten, so sehr eifert er wider den äusserlichen Ausdruck des Schmerzes. In diesem scheinet er allein die Ungeduld zu finden, ohne zu überlegen, daß er oft nichts weniger als freywillig ist, die wahre Tapferkeit aber sich nur in freywilligen Handlungen zeigen kann. Er hört bey dem Sophokles den Philoktet nur klagen und schreyen, und übersicht sein übri ges standhaftes Betragen gänzlich. Wo hätte er auch sonst die Gelegenheit zu seinem rhetorischen Ausfalle wider die Dichter hergenommen? Sie sollen uns weichlich machen, weil sie die ,,tapfersten Männer klagend einführen." Sie müssen sie klagen lassen; denn ein Theater ist keine Arena. Dem verdammten oder feilen Fechter kam es zu, alles mit Anstand zu thun und zu leiden. Von ihm mußte kein kläglicher Laut gehöret, keine schmerzliche Zuckung erblickt werden. Denn da seine Wunden,

[ocr errors]
« AnteriorContinuar »