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zum Guten nicht gehabt habe und darum zu Grunde gegangen sei.

Ein vierter und auch wohl fünfter Erklärer meinen, allerdings, Cordelia ist schuldig; sie ist trotzig gegen ihren Vater, freilich nicht sehr, aber doch ein klein wenig; und sie ist nicht blos trotzig, sondern auch unpatriotisch; denn sie ruft den Feind in das eigene Heimathland. Unpatriotisch! das kommt erst im fünften Akt zum Vorschein, gewiss für den anerkannt grossen Meister in der Charakteristik eine eigenthümliche Art derselben, dass er einen seiner Charaktere sich erst so spät entpuppen liesse. Man wird also jedenfalls versuchen dürfen, diesen Unpatriotismus als Folge einer tieferen Ursache, nicht aber als Basis und Centrum der Charakteranlage zu begreifen. Und gar Trotz! Die engelsgute Cordelia trotzig? Das möchte doch wohl eher hinein- als herausgeheimnisst heissen.

Ein sechster Erklärer meint, Cordelia ist nur eine Nebenperson im Drama, und da darf man es mit der Zeichnung nicht so genau nehmen. Gewiss ein eigenthümliches Entschuldigungszeugniss für einen grossen Dramatiker. Und wie, Cordelia eine Nebenperson? sie, einer der Angelpunkte des Stücks? Das glaube wer mag! Und noch dazu erlaubt sich der Dichter, ihr Schicksal abweichend von der Ueberlieferung so schrecklich endigen zu lassen? Das gäbe denn also nicht nur eine fehlerhafte Charakterzeichnung, sondern sogar eine sonderbare Grille des Dichters bei derselben, und wir kämen somit wieder bei der Shakespeare-Studie des Realisten an, der Liebe des Dichters zum Krassen, oder mindestens der Nichtvermeidung desselben um eines tüchtigen Theatereffekts willen. Wem behagt wohl die Wahl zwischen dieser Scylla und Charybdis?

Da sagt uns endlich ein siebenter Erklärer (Kreyssig): In ihrer ganzen Strenge zeigt uns der Dichter die Thatsache, dass die äussere Welt der Kraft gehört und dem vom Verstande geleiteten Willen, nicht dem Gefühl; dass die Absicht wohl über den inneren Werth einer Handlung entscheidet, nicht aber über ihre äusseren Folgen. Wäre es denn unmöglich, dass der Dichter es wagte, nicht die Tugend und das Gute, natürlich nicht die im grossen Ganzen des Lebens auch sterblichen Augen sich offenbarende göttliche Vernunft, wohl aber die äussere Existenz eines einzelnen Vertreters derselben auf der Bühne, wie es im Leben täglich geschieht, dem tückischen uns unverständlichen Zufall zum Opfer zu bringen? Es wird diesem Erklärer, je mehr er sich in

die ergreifende Wiedervereinigung des genesenden Lear mit der Lieblingstochter vertieft, um so wahrscheinlicher, dass uns, mit Einem Worte, der Dichter hier einmal im Drama wie im Leben, dem uns unverständlichen Spiel dunkler Mächte überlässt, unter der Bedingung, dass in der menschlichen Seele die Macht des sittlichen Geistes um so souverainer, herrlicher walte.

Also doch eine Unerklärlichkeit auf der Bühne, die vor Allem klar sein, à grands traits malen soll, damit wir, die wir bei der Darstellung uns nicht lange besinnen dürfen, stets orientirt seien. Hätte uns der Dichter eine solche Intention nicht ein wenig deutlicher andeuten müssen? Und dann, wäre das nicht eine abgeschwächte Grausigkeit, die uns erheben soll dadurch, dass sie uns zeigt, es komme wohl mal mitunter so etwas vor? Gewiss eine sonderbare Art der Erhebung.

Aber dennoch ist dieser Erklärer meines Erachtens dem Richtigen nahe. Er hätte sich nur sollen von der Fährte nicht abbringen lassen, um das edle Wild zu treffen und nicht mit einem blossen kräftig-schlauen Verstandes-Reinicke vorlieb nehmen.

Suchen wir nach einem umfassenderen Standpunkte; vielleicht, dass es uns so gelingt, dem edlen Erze, das uns aus jedem Auftreten der Cordelia so zauberisch entgegen leuchtet, beizukommen und den Schatz zu heben.

Alle bedeutenderen Dichter lieben es, das Verhältniss von Gemüth und Verstand zum Ausgangspunkt ihrer Darstellungen zu nehanen: Gemüth, welches zwar kein Verstand ist, aber doch taktvoll so oft das Richtige trifft, freilich leider fast nur momentan ausreicht, indem es ohne den berathenden Verstand doch in verwickelteren, nicht sofort und auf Einen Schlag zu entscheidenden und zu lösenden Verhältnissen ebenso oft strauchelt; Verstand, welcher wohl nüchtern-kalt alle Verhältnisse richtig durchschaut, aber leider meist in das andere Extrem eiseskalter Härte versinkt. Die untergeordneteren von jenen Dichtern lieben es nun, die Uebermacht des Gemüths zu zeigen, also zu zeigen, wie ein kräftiges, gesundes, in sich harmonisch entwickeltes Gemüth auch bei nicht stark entwickelten Verstandeskräften doch sich zurecht findet, Zuversicht der halbe Sieg ist, kindlich richtig übt, was kein Verstand der Verständigen sieht etc. das unerschöpfliche Thema der idyllischen Dichter aller Orten und Zeiten. Hingegen die grossen Dichter lieben die Kehrseite der Medaille, also zu zeigen, wie das vortrefflichste Gemüth doch ohne gleichmässig entwickelten Verstand der Sophrosyne entbehrt. So Sophokles in verschiedenen seiner weib

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lichen Charaktere, besonders dem der Deijanira, Lessing in seiner Emilie, die gegenüber dem Prinzen das rechte Wort nicht zu finden weiss, Göthe in seinem naiven Gretchen, Shakespeare in seiner Ophelia, der es ähnlich wie Lessing's Emilie ergeht gegenüber ihrem Bruder, Vater und Hamlet etc. Und das ist auch der Fall der Cordelia: sie ist zwar ohne Falsch wie die Tauben, aber nicht klug wie die Schlangen. Gleich in der ersten Scene wissen ihre klugen, aber hier eben nur klugen Schwestern die Schwächen ihres auf seine Königswürde dünkelhaft stolzen Vaters vortrefflich auszunützen sie hingegen, die doch auch ihren Vater längst kennen musste", vermag ihr Herz nicht auf die Zunge zu heben, sie liebt und schweigt blos. Sie sagt ferner (IV. 4), nicht Ehrgeiz treibe sie in's Gefecht, sondern nur für die Wohlfahrt ihres Vaters sei die Rüstung erfolgt, ohne dass man erfährt, ob diese Rüstung nöthig war; sie erlangt ihn darauf wieder (IV. 7), und doch sehen wir sie (V. 2) in's Gefecht ziehen mit dem alten, schwachen, eben erst genesenen Mann. Wozu das? Will sie, die engelsmilde, ihre bösen Schwestern bestrafen? Sie sagt es nicht, und es passt auch nicht in ihren Charakter. Der Kampf ist also zwecklos, jedenfalls ohne klaren Zweck unternommen. Sie ist offenbar nicht geschaffen, in grossen Dingen zu wirken, grosse Unternehmungen zu leiten; und es ist nur ein matter Trost, den sich solche schwachen Charaktere selbst zu geben pflegen, dass sie, als sie bei ihrem nicht wohl überlegten Unternehmen in Gefangenschaft geräth, meint, sie sei nicht die Erste, die, Gutes wollend, doch das Schwerste dulden müsse., Mit Einem Worte, es ist der Fall von Lessing's Emilie, von der ihr Vater sagt: Das Weib wollte die Natur zu ihrem Meisterstück machen. Aber sie vergriff sich im Thone, sie nahm ihn zu fein, sonst ist Alles besser an ihr (als an uns).

Wir können einen so kurzsichtig-braven, ungelenken Charakter wohl bemitleiden, ja wir müssen dies thun um des vortrefflichen, pietätsvollen Herzens willen, das er zeigt; aber schwerlich werden wir sagen können, es sei von Cordelia die gehörige Klugheit gezeigt und es sei ihr etwas Anderes widerfahren, als wozu sie von Anfang an angelegt erscheint.

Aber wie, kann Mangel an Verstand eine tragische Schuld in sich schliessen?

Ich könnte hierauf antworten: Was die grössten Dichter aller Zeiten sich erlaubt haben, um tragische Charaktere zu schaffen, was ein Sophokles, Shakespeare, Lessing, Göthe gethan, um tragisch zu wirken und wobei sie uns zwingen, von den Gefühlen

der Furcht, des Mitleids durchbebt zu werden, ohne der Herabstimmung dieser Gefühle zu harmonischem Maass mit den Denkkräften zu entbehren, das muss ja wohl erlaubt sein zur Hervorbringung von solchen Charakteren. Doch will ich dies blos erfahrungsmässige Moment nicht ausschliesslich geltend machen. Ich frage weiter: Was ist denn jede Schuld im Grunde Anderes, als eine Unvollkommenheit gewisser Geisteskräfte im Verhältniss zu gewissen anderen kräftiger entwickelten, kräftiger sich geltend machenden? Und ist es nicht völlig gleich, ob jene schwächeren Geisteskräfte nun Gemüths- oder ob es Verstandeskräfte seien? Alle beide Arten von Geisteskräften müssen gehörig entwickelt sein, gehörig angestrengt werden, um ein Straucheln zu vermeiden. Ja selbst, wenn es nur möglich sein sollte, durch Leidenschaften (der Gemüthskräfte) schuldig zu werden, wer darf wagen, auf die so schuldig Gewordenen zuerst einen Stein zu werfen, wenn es denn durchaus auf ein Steinwerfen ankommen soll? Aber, wer will denn sagen, ob z. B. Macbeth, aus masslosem Ehrgeiz handelnd, blos sein Gewissen übertäubt habe, oder ob nicht auch und vor Allem seinen Verstand? Denn nur ein unvollkommener, seinem starken Ehrgeiz gegenüber zu schwacher Verstand konnte sich bei den ihm gewordenen zweideutigen Prophezeihungen beruhigen. Jede solche Unvollkommenheit setzt somit eine Disharmonie zwischen den Denkund Gemüthskräften voraus. Der geistigkräftige und zugleich harmonisch entwickelte Mensch strauchelt nicht, geht letztenfalls nicht tragisch, sondern heroisch, reinschön unter. Die tragische Wirkung muss also vielmehr ganz wo anders gesucht werden, als darin, dass wir einen Charakter als schuldvoll" durch seine Leidenschaften erkennen. Sie besteht offenbar darin, dass wir einen in einer oder in mehreren Beziehungen wahrhaft gross und edel angelegten Charakter doch in anderen Hinsichten so endlich, so unvollkommen, so durch Schwächen entstellt erblicken. Ach, und dass er nach diesen Schwächen Schlimmstes oft selbst das Todesfeuer ertragen muss, um zur Harmonie geläutert zu werden! Wir fragen, ob nicht in allen diesen Beziehungen Cordelia ein solcher und sogar hochtragischer Charakter ist? Wir meinen, es könne darüber nicht der mindeste Zweifel obwalten.

Haben wir aber diese Ueberzeugung, und sie wird uns durch eine scharfbeobachtende Psychologie beigebracht, so kann es uns nicht befremden, dass ein Charakter, der alle Gemüthstugenden besitzt, wie Cordelia, doch zu einem tragischen wird, weil ihm

Jahrbuch II.

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Vernunft fehlt; denn diese besteht darin, dass erst unter dem erhellenden Lichte des Verstandes die Gemüthskräfte des Wohlwollens, Vertrauens," Gewissens, der Pietät etc. zu der göttlichen Frucht der Vernunft reifen". (Conf. Huschke, Schädel, Hirn und Seele.)

Wir stehen vor einem grossen, durch die naturwissenschaftliche Psychologie erkannten Gesetze, das wir ehrfurchtsvoll anzuerkennen haben.

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Dennoch können wir von den vorstehend verworfenen Ansichten einige Gesichtspunkte gelten lassen. Zunächst ist es richtig, dass es viel unleidlicher sein würde, fände die Verblendung" der Cordelia bei einem männlichen Charakter statt; denn der Unterschied der männlichen von der weiblichen Psyche besteht darin, dass vom Manne, wo er handelt, immer vorzugsweise gefordert wird, er solle klar handeln, d. h. mit Verstand; er solle also vor Allem jede verschwommene Auffassung seiner Umgebung und jede Kurzsichtigkeit seiner Intelligenz" vermeiden, und nur die Blendung durch eine sehr heftige Leidenschaft lässt uns einen männlichen, sonst mit vorzüglichen Gemüthseigenschaften ausgestatteten Charakter doch als tragischen anerkennen, ungeachtet wir an ihm, dieser heftigen Leidenschaft gegenüber, Klarheit der Beobachtung und des intelligenten Nachdenkens vermissen. Hingegen ein Weib mag weniger Intelligenz zeigen, wenn sie nur Gemüthstiefe besitzt. Hier hat also ein Dichter selten nöthig, selbst den wirklichen Mangel an Verstand durch eine betäubende Leidenschaft zu verdecken.

Sodann können wir zugeben, dass die herrliche Cordelia mit ihrer Gemüthstiefe ausgereicht haben würde, hätte ihr Leben keine ausserordentlichen Erschütterungen erlitten. Allein in den durch Lear's Verblendung entstandenen Strudel hineingerissen, in Mitleidenschaft gezogen", reichte ihr blosses Gemüth nicht aus. Es fällt somit ihr Untergang eben so sehr wie in sie selbst auch in ihre Umgebung. Dieses Zusammenwirken von eigener Charakteranlage und Umgebung des Charakters ist bekanntlich von grossen Dramatikern, namentlich Schiller, stets als wesentlich festgehalten worden, um ein tragisches Geschick hervorzubringen und tragische Wirkungen zu erzielen. Insofern die Unvollkommenheiten tragischer Charaktere durch ihre Umgebungen erst recht an's Licht gebracht werden, wird unsere Furcht wie unser Mitleid für sie nur gesteigert.

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