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Hypothesen reicht zur genügenden Erklärung aus. Die Corruption des Textes ist unläugbar in metrischer Hinsicht ärger, als in irgend einem andern Drama Shakespeare's, und die spätern Herausgeber haben, indem sie den Mängeln der Folio abhelfen wollten, das Ihrige gethan, den Schaden nur noch grösser zu machen, Verse, welche die Folio richtig als solche druckt, in Prosa aufgelöst und umgekehrt die Prosa der Folio in Verse regulirt. Aber eben dass diese Bemühungen nur bei einem genau von dem Uebrigen zu sondernden Theile erforderlich oder auch nur möglich waren, während ein andrer Theil des „Timon" metrisch und stylistisch stehen bleiben konnte, wie ihn die Folio bringt, beweist, dass nicht die Corruption erst diesen tiefgehenden Unterschied in das Drama hineingebracht. Auch die zweite Annahme, der zufolge, Timon von Athen“ unvollendet vom Dichter hinterlassen sei, erscheint unhaltbar; die schwächeren Stellen oder die, welche in Styl, Vers und Charakteristik zu den vollendeten in entschiedenem Widerspruche stehen, beschränken sich nicht auf einen bestimmten Theil des Gedichtes, der von Shakespeare etwa in erster Skizze roh entworfen und dann nicht mit dem Rest überarbeitet sei, sondern laufen abwechselnd durch das ganze Drama, so dass es unbegreiflich schiene, wie Shakespeare so sprungweise Vollendetes und Unvollendetes nicht neben, sondern durch einander habe auf's Papier bringen können. In dieser Verlegenheit stellt Knight die Theorie auf und sucht sie durch eine Analyse des ganzen Schauspiels in seinem Verlauf näher auszuführen, dass der „Timon" nicht ganz von Shakespeare herrühre, sondern ursprünglich von einem andern untergeordneten Dichter verfasst sei und in dieser seiner ersten Gestalt sich eine Zeit lang auf der Bühne behauptet habe; dass das Drama nicht ganz umgearbeitet auf uns gekommen sei, wie der Widerspenstigen Zähmung" und „König Johann", sondern insofern umgegossen, dass ganze Scenen von Shakespeare an die Stelle ganzer Scenen des älteren Schauspiels getreten seien, und zwar fast ausschliesslich solche Scenen, in denen Timon selbst auftritt und sein Charakter sich entwickelt. Es lässt sich gegen diese Theorie, welche Knight mit Scharfsinn und feinem ästhetischen Gefühl an der ganzen Scenenreihe im „Timon" praktisch nachweist, eine doppelte Einwendung machen; einmal dass eine solche Benutzung einer fremden Arbeit, welche die eine Hälfte des Originals in allen ihren metrischen und stylistischen Mängeln unberührt lässt und die andere Hälfte zu wirklich Shakespeare'schem Eigenthum umgestaltet, ganz unbekümmert um den Gegensatz, der sich in deren unvermitteltem Durcheinander

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fühlbar macht, dass eine solche Benutzung von Seiten Shakespeare's wirklich beispiellos ist. Sollte Shakespeare in seinen reiferen Jahren, denen Timon von Athen" angehört, wenn er damals überhaupt noch an die Bearbeitung fremder Bühnenstücke ging, diese Arbeit halb gethan und halb unterlassen haben, er, der in früherer Zeit die Zähmung einer Widerspenstigen" und den ältern König Johann nicht halb, sondern ganz, und zwar durchgängig in allen Theilen aus einem fremden Werke zu einem eignen machte? Schon die hohe Vollendung, das tragische Pathos, die der Dichter den von Knight als Shakespeare'sch bezeichneten Theilen des „,Timon" verlieh, verrathen die Liebe, welche er diesem Werke als dem seinigen zuwandte. Zu diesem ersten Bedenken kommt ein zweites, dass nämlich die vernachlässigten Stellen, welche Knight einem andern untergeordneten Dichter zuschreiben möchte, bei allen Mängeln und bei allem Abstande von dem übrigen „Timon" doch durchweg den Stempel Shakespeare'scher Eigenthümlichkeit tragen, was sich schwerlich mit Knight durch einige gelegentliche Striche von der Hand unseres Dichters hie und da angebracht (some few occasional touches here and there), erklären lässt. Es bleibt mithin nichts Anderes übrig, als den ganzen Timon in allen seinen Theilen für Shakespeare's Werk zu halten und den Grund der bemerkten Verschiedenheit in einer partiellen Umarbeitung zu suchen, die er einer von ihm selbst herrührenden Jugendarbeit in reiferen Jahren angedeihen liess. Bei dieser Umarbeitung scheint ihm allerdings die Charakteristik des Timon ausschliesslich am Herzen gelegen zu haben. Die Scenen, in denen dieser Held des Dramas nicht auftrat, liess er als weniger wesentlich so stehen, wie er sie früher geschrieben. Das Stoffliche, der Gang der Handlung blieb wie früher; und da auch das Frühere in diesen Nebendingen sein Eigenthum war, konnte er sich schon eher daran genügen lassen, als wenn die Spuren einer fremden Hand in seinem „Timon" sichtbar geblieben wären."

So war im Wesentlichen meine frühere Auffassung von dem Verhältnisse der beiden disparaten Elemente des Dramas zu einander. Eine eingehendere Beschäftigung mit dem Texte jedoch, für die Herausgabe in meiner Gesammtedition der Shakespeare'schen Werke, hat mich später von der Unhaltbarkeit meiner Hypothese überzeugen müssen, dass wir in dem ganzen Timon, in der Anlage des Dramas, in der Charakteristik der Nebenpersonen, in den stylistischen und metrischen Mängeln einzelner Partien, überall des Dichters eigene Hand, nur aus verschiedenen Lebensperioden, zu

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erkennen haben. Am Wenigsten möchten diejenigen Theile des Timon, die ich nunmehr kein Bedenken trage, geradezu als unshakespeare'sche zu bezeichnen, die charakteristischen Merkmale Shakespeare'scher Jugendarbeiten an sich tragen. Denn auch die Jugendarbeiten unseres Dichters legen schon von seiner Kunst, wenn auch nicht von seiner Kunstvollendung, überall ein vollgültiges Zeugniss ab. Der Plan ist, wenn auch weniger complicirt und mit weniger feinem Calcul in seinen Einzelnheiten gruppirt, doch überall logisch klar und übersichtlich entwickelt. Nirgendwo leidet er an solchen inneren Widersprüchen, an solchen unmotivirten Sprüngen und Einschiebseln, wie sie uns im Timon aufstossen. Die Charakteristik ist, wenn auch nicht so tief gefasst, nicht so scharf umrissen, nicht so fein nüancirt, wie in den Schauspielen aus Shakespeare's reiferer und reifster Zeit, doch überall fest und bestimmt, um über die Absichten des Dichters keinen Zweifel zu lassen; sie ist überall consequent von Anfang bis an's Ende durchgeführt und stört uns nirgendwo den Eindruck, dass wir es mit wirklichen Personen, mit Individuen von Fleisch und Blut zu thun haben; nicht lediglich mit Schemen oder, im besten Fall, mit blossen Gattungsfiguren, wie sie in so manchen Scenen des Timon herumspuken. Der Styl in Shakespeare's Jugenddramen zeichnet sich, im Gegensatze zu der partiellen Gedrungenheit und der gedankenvollen Schwierigkeit seiner späteren Diction durch grössere Klarheit und leichtere Verständlichkeit aus, während gerade die unshakespeare'schen Partien des Timon an gesuchten Dunkelheiten und unschönen Seltsamkeiten des Ausdrucks keinen Mangel leiden. Vollends im Widerspruche mit dem Typus der Shakespeare'schen Jugendarbeiten steht der Vers der unächten Stücke des Timon: bei Shakespeare überall in seinen frühesten Arbeiten der regelmässige, oft bis zur Monotonie regelmässige Tonfall des reimlosen Blankvers, den er von seinen dramatischen Vorgängern übernommen und erst später zu lebendigster Mannigfaltigkeit, dem dramatischen Zwecke in jeder Wendung sich anschmiegend, umgebildet hat. In den betreffenden Theilen des Timon dagegen herrscht, dieser strengen metrischen Ordnung gegenüber, eine wahre metrische Anarchie, an deren versuchter Regulirung alle bessernden Bemühungen der Herausgeber gescheitert sind. Und, vollends unshakespeare'sch, erscheinen überall zwischen diese hinkenden, holperichten Jamben, die wie Prosa aussehen, sowie umgekehrt zwischen diese Prosa, die sich zur Noth in schlechtgebaute Jamben abtheilen lässt, Reimverse reichlich eingestreut, deren müssiges Geklingel in solcher Einfassung und Umgebung doppelt

widerlich sich geltend macht; während in Shakespeare's Jugendarbeiten wie in seinen späteren Dramen der Reim nirgendwo ohne eine gewisse innere Berechtigung auftritt, überall wohl motivirt erscheint, entweder am Schlusse einer Scene oder längeren Rede, häufig in epigrammatischem Resumé, oder durch ganze Scenen und Reden hindurch, in pathetisch gehobenen, lyrisch bewegten Stimmungen.

Diese und ähnliche Erwägungen waren es denn, welche mich veranlassten, in der Einleitung zu meinen Ausgaben des Timon of Athens (Erste Auflage im Jahr 1855 Zweite Auflage im Jahr 1865) meine vollständige Zustimmung zu der oben charakterisirten Ansicht Charles Knight's auszusprechen, und nach Knight's Vorgange den Versuch zu machen, in einer Analyse die Shakespeare'schen Partieen von den Nicht-Shakespeare'schen zu sondern. Meinem Zwecke einer Gesammtausgabe Shakespeare's gemäss, konnte jene Analyse nur eine sehr kurze und insofern ungenügende sein, als sie sich mit einer allgemeinen Uebersicht des Scenariums begnügen musste und nicht auf alle Einzelnheiten und noch weniger auf eine detaillirte Angabe der Gründe sich einlassen durfte, weshalb diese oder jene Scene, ja sogar diese oder jene Partie einer Scene, nicht von Shakespeare herrühren könne, sondern von dem Anonymus herrühren müsse, dessen Drama unser Dichter benutzt hat, oder, um das Verhältniss genauer zu formuliren, in dessen Drama unser Dichter einzelne Scenen oder auch nur einzelne Reden eingefügt hat. Was ich damals, in der Einleitung zu meiner Ausgabe des Timon of Athens, nur in Andeutungen und allgemeinen Umrissen geben konnte, mag hier in eingehender, weiterer Ausführung ergänzt werden, in einer raisonnirenden, übrigens von Knight durchaus unabhängigen Analyse, als deren, allerdings erst zu beweisende, Prämissen folgende vier Sätze aufzustellen sein möchten:

1) Shakespeare's Betheiligung am Timon of Athens fällt in eine reifere Lebensperiode des Dichters, in eine Zeit, wo in seiner Dramaturgie bereits der schöpferischen Phantasie der philosophische Tiefsinn das Gegengewicht zu halten, vielleicht sogar ein Uebergewicht zu gewinnen beginnt. Psychologische Fragen poetisch zu verarbeiten, einzelne Charaktere in ihrer Tiefe und Eigenartigkeit zu erfassen, das mag für unsern Dichter in jener Zeit keinen geringeren Reiz gehabt haben, als die künstlerische Anlage, die Verflechtung und Entwickelung eines dramatischen Gesammtstoffes. Von diesem Gesichtspunkt aus betrachtet, erscheint es denn nicht mehr so auffällig, wie es sonst erscheinen müsste, wenn wir Shakespeare, selbst in seiner reiferen Zeit, seine sichere und geübte Hand an das Drama

eines Anderen legen sehen, nicht um dessen Unvollkommenheiten, die seinem überlegenen Scharfblick am Allerwenigsten verborgen bleiben konnten, wegzuräumen in einer durchgreifenden Umarbeitung, sondern lediglich um seine psychologische Meisterschaft an der Entwickelung eines einzelnen Charakters, der freilich den Mittelpunkt des Dramas bildet und ihm den Namen leiht, zu üben und darzuthun.

2) Das Drama, welches Shakespeare auf diese Weise also nicht umarbeitete, sondern nur mit neuen Zuthaten von seiner Hand ausstattete, muss ihm vollständig, nicht etwa als ein von ihm erst zu ergänzendes Fragment, vorgelegen haben, so dass darin einzelne Scenen des Anonymus einzelnen Scenen unseres Dichters haben. weichen müssen. Ja, es ist sogar im höchsten Grade wahrscheinlich, dass das Drama des Anonymus dem Publicum bereits auf der Bühne vorgeführt war, und dass, abgesehen von dem oben berührten vorwiegend psychologischen Interesse an dem Stoffe, eben dieser Rücksicht auf das Publicum und auf dessen Gewöhnung an das Drama in einer bestimmten Gestalt unsern Dichter veranlasst hat, an dem Plan des Stücks, so mangelhaft derselbe ihm auch erscheinen mochte, nicht das Mindeste zu ändern. Wie Shakespeare solche Rücksichten auf gewohnte Anschauungen seines Publicums auch anderswo zu nehmen und wie er sehr wohl das Interesse der Popularität mit dem Interesse der Kunst zu vermitteln wusste, das sehen wir ja an seinem King John und an seiner Taming of the Shrew, an zwei Dramen, die nicht bloss theilweise, wie Timon of Athens, sondern ganz sein Werk sind, und die doch den Plan, grossentheils auch das Scenarium den uns noch erhaltenen Arbeiten anonymer Dramatiker entlehnen; nicht etwa weil dieser Plan und dieses Scenarium unserm Dichter keiner Verbesserung fähig oder bedürftig erschienen wären, sondern weil das Publicum nun einmal an King John und an Taming of a Shrew in dieser älteren uns überlieferten Gestaltung und Anordnung gewöhnt war, und weil es in der Bühnenpraxis sich empfahl, die Zuschauer in dieser ihrer gewonnenen Anschauung nicht irre zu machen.

3) Das Drama, welches Shakespeare entweder in der Handschrift vor sich liegen hatte, oder, falls die Hypothese begründet ist, auf der Bühne aufführen sah, kann kein aus früherer Zeit stammendes und später in Vergessenheit gerathenes Schauspiel gewesen sein. So unvollkommen nach jeder Seite hin, in Anlage und Charakteristik, dasselbe sich, wie es uns vorliegt, auch darstellen mag, so verräth doch der Dialog und das Arrangement einzelner

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